Grundlagen

Struktur der Therapie

Theraplay ist geprägt von dem Gedanken, das zu geben, was Kinder für ihre Entwicklung brauchen.
Dem Thema „was Kinder brauchen“ widmet sich ein ganzes Buch: die Forschungsarbeit von Kellmer-Pringle (1979). Auch andere Autoren haben sich mit diesem Thema beschäftigt (z. B. Smith 1998, Hillenberg u. Fries 1998). In Theraplay geht man davon aus, dass Kinder entsprechende Bindungsangebote brauchen, um eine sichere Bindung eingehen zu können (Jernberg u. Booth 1999). Die ursprünglichen und häufigsten Partner für Angebote zu Bindung sind die Eltern und hier besonders die Mütter. Schaut man sich mütterliches (oder auch elterliches), bindungsförderndes Verhalten genauer an, so fallen besonders Einfühlsamkeit, eine adäquate Fürsorglichkeit, Eindeutigkeit und Klarheit auf, in der Theraplay-Terminologie sind das die Elemente Fürsorge und Struktur.

Beides gehört absolut zu den Verhaltensweisen von Theraplay-Therapeutinnen. Daneben sah Ann Jernberg auch die Bereiche Eindringlichkeit und Herausforderung als grundlegend für die Bedürfnisse von Kindern an. Hier im deutschsprachigen Bereich wird Theraplay sehr häufig bei entwicklungsgestörten Kindern angewandt. Für diese erweist sich die richtige interaktive Stimulation entscheidend für Aufmerksamkeit und Aufnahme von Kommunikation. Bei wahrnehmungsgestörten Kinder ist besonders die Regulation der Reize von großer Bedeutung. So wurde der Bereich Eindringlichkeit in Stimulation umgewandelt (Franke 1993), denn Eindringlichkeit ist eine Haltung, die sich durch die gesamte Therapie zieht und sich nicht explizit in bestimmten Handlungen ausdrückt. Es sind also hier im deutschsprachigen Theraplay Herausforderung, Stimulation, Fürsorge und Struktur, die in der Theraplay-Sitzung eine Rolle spielen. In welcher Form – das muß maßgeschneidert werden und entscheidet sich je nach Kind und Situation. Grundlage der Entscheidung ist, was das Kind aktuell und auf längere Sicht für seine Entwicklung braucht.
Man kann die Antwort auf die Bedürfnisse eines Kindes auch anders betrachten. Es gibt Aktivitäten und SPIELE für Kinder, die anregend wirken und andere, die beruhigen: das sind die RITUALE.

Ich werde auf beide im folgenden ausführlicher eingehen.

Rituale

Beide Darbietungsformen, Rituale und Spiele, wirken unterschiedlich auf Kinder. Rituale machen Kinder sicherer (Kaufmann-Huber 1995) und fördern die Kognitions-, Emotions- und Sprachentwicklung (Katz-Bernstein 1998, Bruner 1987). Rituale bestehen aus immer wiederkehrenden, mehr oder weniger festgelegten Handlungs- und sprachlichen Strukturen, die dadurch einen hohen Wiedererkennungswert haben. Die Struktur des Inputs ist einfach und beschränkt, also ist die Wahrnehmungskapazität des kindlichen Gehirns weniger gefordert. Dies verbessert die Aufmerksamkeit und erleichtert dem Kind die Informationsaufnahme. Begegnet es solch einer ritualisierten Struktur, erkennt es sie also als solche wieder, braucht sein Organismus nicht mehr in der vorsichtigen „Hab-Acht-Stellung“ sein. Damit kann sich der Körpertonus auf ein angemessenes Maß senken. Das Kind kann aufnehmen, es braucht sich nicht mehr zu besonders aufpassen oder sogar ängstigen. Wir sehen es an seinem entspannten Gesichtsausdruck. Die Augen schauen wach und interessiert und ist der Reiz schon bekannt, lächelt es vielleicht dabei.

So nehmen Rituale in der Theraplay-Therapie für ängstliche, unsichere, sprachverständnisgestörte, wahrnehmungsgestörte Kinder, für unruhige hyperaktive und vor allem für autistische Kinder einen äußerst wichtigen Platz ein. Sie sind in ihrer Struktur wie die Wände und Räume eines Hauses, die eine gewisse Geborgenheit ausstrahlen.

Welche Rituale kommen bei Theraplay zum Einsatz?

Rituale sind Bestandteil jeder Theraplay Stunde. Wie ausführlich und häufig sie durchgeführt werden, das heißt, welchen Raum sie einnehmen, hängt von dem jeweiligen Kind und seinen Bedürfnissen ab. Theraplay kennt folgende Formen:

1.    Chequeo (span.) oder Check-up (engl.) heißt das Ritual meist am Anfang einer Therapie. Man versteht darunter das verbale und handelnde Wiederspiegeln der Therapeutin dessen, was sie am Kind bemerkt. Dieses erlebt dabei das Vergnügen, gesehen und entdeckt zu werden.

Welche Ziele hat dieses Ritual noch?

a) Das Kind wird dazu geführt, seine Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken. Dies steht im Gegensatz zu der üblichen Intention in einem Lernsetting. Kommt ein Kind in einen Raum z.B. zur Therapie, dann soll es das beachten, was die Therapeutin für es vorbereitet hat. Es wird aufmerksam gemacht auf all die neuen äußeren Dinge.
Durch die Lenkung der Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper spricht man das Selbstbild des Kindes an, das bei Theraplay aufgebaut oder verbessert wird. Im Vorschulalter bezieht sich das Selbstbild des Kindes ausschließlich auf seinen Körper, mentale Eigenschaften werden noch nicht als Teil des Selbst erkannt (Samuels 1977,  Thomas u. Feldmann, 1986).

b) Die Beschäftigung mit dem Körper und seinen Teilen ist für kleinere Kinder hilfreich, um ihren Körper und seine Bezeichnungen (wirklich oder besser) kennen zu lernen. Körperimago und Körperbegriff werden dadurch intensiv gefördert. Besonders wahrnehmungsgestörte Kinder  brauchen dieses intensive Beachten und Erleben ihres Körpers, um taktile und propriozeptive Reize besser einordnen zu können. Dies ist die Bestandteil der sensorischen Integration (Ayres 1979) und hilft, ein körperliches ICH zu entwickeln.

c) Das Kind erfäht bei diesem Ritual, daß es konstante und sich verändernde Dinge an seinem Körper gibt. So werden Haare länger oder sind nach einem Friseurbesuch kürzer, sie locken sich heute an der Schläfe, sonst sind sie glatt. Die Augen sind wieder so strahlend blau, oder so tief schokoladenbraun. Aber sie können auch besonders leuchten.

d) Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Erleben des Kindes, daß es selbst an seinem Körper etwas verändern kann. Nachdem der Fuß aus Schuh und Strumpf befreit ist, entdeckt die Therapeutin die Zehen: „Oh! Da sind ja viele viele Zehen!! Was können die denn machen? Wackeln?? Zeig mal!! Ja! Die kann man bewegen, ja, sie wackeln!“ (Die Therapeutin nimmt die Hände wieder von den Zehen und schaut sie an.) „Jetzt sind sie ganz still!“ (Faßt einen Zeh an und bewegt ihn) „Bewegen kann er sich und ruhig sein auch!“ Daraufhin versucht das Kind die Zehen selbst zum Wackeln zu bringen (vielleicht dadurch, daß es das ganze Bein bewegt, weil es die kleine Bewegung noch nicht beherrscht) und erntet Begeisterung dafür: „Tatsächlich, die wackeln ja alleine!“ Das ‚Zehenwackelspiel‘ ist geboren, und das Kind hat gerade etwas wichtiges gelernt: seinen Körper bewußt zu dirigieren, es erfährt eine Selbstwirksamkeit. Das Spiel macht dem Kind (und auch der Therapeutin) Spaß, gibt ihm ein Erfolgserlebnis bzw. eine Verstärkung. Eine grundsätzliche Motivation ist geschaffen: „Ich kann etwas bewirken!“

e) Nur wenn das Kind noch sehr klein, ein Säugling ist, beschäftigen sich die Erwachsenen staunend mit dem grundsätzlichen Funktionieren und dem Aussehen des kindlichen Körpers. Später ist die Aufmerksamkeit vor allem verbunden mit Krankheiten, Störungen und dem Nicht-Funktionieren. Die Beachtung des Körpers von älteren Kindern ist also meist negativ besetzt. Die  Theraplay-Therapeutin bewundert, sie erlebt, drückt aus und staunt, wie in der Interaktion mit einem Kleinkind. So kann das Kind vor ihr seinen Körper plötzlich auch anders kennenlernen. Nicht als etwas selbstverständliches, sondern als etwas Wunderbares. Der Freude der Therapeutin, die ansteckend ist, folgt der Stolz des Kindes. „Der Fuß kann sich ja tatsächlich so weit hoch und runter bewegen! Der ist aber beweglich! Jetzt will ich sehen, ob sich dieser Fuß auch auf die Seite drehen kann! Tatsächlich! Links, rechts, hoch, runter – alles geht! Ich glaube, deshalb kannst du gut hüpfen!“

Ein weiteres Beispiel bei einem älteren Kind: „Du hast aber viele und lange Wimpern an Deinen Augen! Wie viele sind das wohl? Ich muß sie mal zählen. Das erfordert Geduld vom Kind, aber wir haben noch nie ein Kind erlebt, das nicht bereitwillig und gespannt wartete, wieviel Wimpern es an seinem rechten Augen oben hat. (Selbstverständlich muß dabei die Konzentrationsfähigkeit des Kindes beim Zählen berücksichtigt werden.)

f) Eine grundsätzliche Regel beim Chequeo besagt, daß möglichst keine Äußerlichkeiten, wie z.B. Schmuck oder Kleidung gespiegelt oder bewundert werden. Sagen diese Dinge doch mehr aus über die materiellen Möglichkeiten der Eltern als über die Besonderheiten des Kindes. In unserer stark materiell geprägten Welt wird über einen Nike-Turnschuh oder ein T-Shirt mit Krokodil vergessen, wer der Träger ist. Die Dinge stehen als Wertangabe für den Menschen. Dies paßt nicht in die Theraplay Philosophie, daher werden solche äußerlichen Dinge möglichst negiert.

Wenn Kleidung z.B. Erwähnung findet, dann in anderem kindbezogenen Kontext. „Wie gut, daß dir die Mama die dicken Stiefel angezogen hat, deine Füße sind wunderbar warm.“
Weist ein Kind z.B. auf seine neuen Schuhe hin, reagiert die Therapeutin: „Die sind neu? Und was ist in diesem neuen Schuh? Ich spüre – da ist ein beweglicher Fuß, das ist gut, der hat Platz drin!!“

g) Auch für die Therapeutin selbst ist das Chequeo sehr hilfreich. Durch ihr intensives Schauen und Kontakt aufnehmen fokussiert sie ihre Aufmerksamkeit ebenso auf das Kind wie umgekehrt. Weit weg sind dann ihre Gedanken von ihrem Leben außerhalb des Zimmers vor oder nach dieser Therapie. Sie ist präsent und bei dem Kind, nicht abgelenkt von eigenen und äußeren Dingen.

2.  Heile Segen

Dieses Ritual ist in unterschiedlichen Varianten wahrscheinlich allen Kindern bekannt. Es geht hier darum, bedauernd wahrzunehmen, daß das Kind in irgendeiner Form verletzt ist und ihm daher entsprechend Trost anzubieten. Dieser Trost kann
a) einfach nur bedauerndes Verbalisieren sein
b) zusätzlich noch über das Weh zu streichen.
c) zum Verbalisieren auch das Weh eincremen oder einpudern 
d) ein Heile-Segen-Lied singen oder mit streicheln ein Verslein sagen (entsprechende Verse s. Versleinbuch LINK)

Es hat sich als probat erwiesen, zwischen blauen Flecken (die auch grün oder gelb sein können) und „Auas“, „Kratzern“, „Stichen“ usw. zu unterscheiden. Beim Lied „Blauer Fleck geh schnell weg“ hören viele spracherwerbsgestörte Kinder einen kurzen Reim, den sie bald selbst mitsprechen und selbst sagen können. Bei blauen Flecken kann die Therapeutin die Creme richtig fest einmassieren, was den wahrnehmungsgestörten Kindern sehr gut tut.

Ziele und Sinn dieses Rituals ist es, dem Kind zu vermitteln: Ich sorge mich um Dich, Deine Blessuren sind es immer wert, versorgt und beachtet zu werden.

Solche Verhaltensweisen kommen in der Regel nur bei Eltern vor, Außenstehende, die sich mit Verletzungen beschäftigen wie Ärzte oder Krankenschwestern zeigen leider meist eine wenig für das Kind sicht- und erlebbare fürsorgliche und tröstende Haltung.

Besonders wahrnehmungsgestörte Kinder weisen noch kein normales Schmerzempfinden auf, es ist reduziert, vielleicht auch verändert. Am Körper dieser Kinder kann man meist viele Schrammen und blaue Flecke sehen. Schenken wir den „Auas“ der Kinder viel Aufmerksamkeit, zeigen wir ihnen damit, daß hier ein Schmerzempfinden angebracht ist. Das lernt das Kind und das Gefühl für den Körper kann sich entwickeln.

Auch vernachlässigte, mißhandelte Kinder brauchen das ausführliche Ritual des Heile Segen mit viel Bedauern. Ihr Empfinden, daß sie es wert sind, so intensiv und liebevoll betreut und versorgt zu werden, soll sich entwickeln und festigen.

Was macht man aber bei Kindern, die (nicht physiologisch!) sehr wehleidig sind? Ist da das Ritual ‚Heile Segen‘ nicht fehl am Platze? Nach unserer Erfahrung nicht. Durch die intensive Zuwendung (oder deswegen?) versiegt das Jammern, das Wehklagen recht bald. Vielleicht weil sie gesättigt sind an dieser Zuwendung? Oder aber, weil sie das Jammern als Ausdruck eingesetzt haben für ihre Mutlosigkeit oder weil sie was vermissen?

2.    Verse und Fingerspiele

Betrachtet man die spielerischen Beschäftigungen von Eltern mit ihren kleinen Kindern, so kommen in unserer Kultur den Reimen und Versen eine große Bedeutung zu. Diese Art formalisierter Sprache mit ihrem ausgeprägten Rhythmus und den sich reimenden Wörtern kann von Kinder trotz meist fehlendem semantischen Verständnis leicht aufgenommen werden (vielleicht erinnert sich die eine oder andere Leserin daran, als Kind Lieder mitgesungen zu haben, dessen Text man nicht verstand). Und trotzdem sind sie nach unseren Erfahrungen ein Königsweg zum Spracherwerb.

Ein immer wieder angebotener Fingervers z.B.
•    bringt einem Kind einen Sprachrhythmus nahe.
•    Er hilft dem Kind, aufmerksam zu werden auf phonologische Phänomene, die Reimwörter.
•    Er läßt das Kind durch begleitende Bewegungen z.B. bei Hoppe Reiter die Verbindung zwischen Sprache, Rhythmus und Bewegung erleben.
•    Er hilft dem Kind, aufmerksam zu sein.
•    Er hilft, das Sprachgedächtnis aufzubauen.
•    Er verhilft dem Kind, Sprache in einer (seriellen) Abfolge zeitlicher Natur zu erleben und dann zu erlernen.

Diese Aufzählung zeigt, daß hierbei primär der Input im Zentrum steht. Man darf aber nicht vergessen welchen großen Einfluß, die Verse auf die Psyche von Kindern haben. Nach unserer Erfahrung beruhigen Verse (angepaßt an die Aufmerksamkeitsspanne und an das emotionale Alter) kleine Kinder und machen sie aufmerksamer. Damit ist eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen des sozialen Lernens geschaffen (Bandura 1986).

Probieren Sie doch einmal Fingervers bei Erwachsenen aus und achten Sie auf  ihre Reaktionen. Wie verändert sich ihr Gesichtsausdruck? 

Wie man die Wirkung von solchen Angeboten genau erklären kann, ist noch unzureichend erforscht (Katz-Bernstein 1998). Sind Verse so ungefährlich, dass das Kind ruhiger wird? Sind Verse auf einer sprachlich-kognitiven Ebene, die es nicht überfordert? Ist das Angebot beruhigend, weil es frühkindliche (subkortikal gespeicherte) Erinnerungen aktiviert?

Die Auszählverse

Eine extra Kategorie bilden die Auszählverse. Sie spielen bei Theraplay und meist schnell zu Hause bei den Kindern eine große Rolle. Das heißt, sie werden schnell übertragen. Sie sehen sehr spielerisch aus, dienen aber oft zur Lösung eines Konfliktes. Der Konflikt heißt: „Ich muß mich zwischen zwei erwünschten Alternativen entscheiden und weiß nicht, was ich wählen soll.“ Das sind Beispiele wie: „Soll ich jetzt lieber das Kaugummi nehmen oder das Eis?“ oder: „Wer von den Geschwistern darf heute mit dem Papa einkaufen fahren?“ In solch einer Ambivalenz hilft auszählen. Man läßt den Vers, d.h. den Zufall entscheiden und ist nicht selbst gefordert. Dies kann nach unseren Erfahrungen viele konfliktträchtige Situationen im Alltag auflösen.

Wie werden die Auszählverse in der Therapie eingeführt und angewendet: Wir führen einen Konflikt in der Therapie ein, bieten ein Modell an (Bandura 1985) mit einer Lösung. Wir wollen beispielsweise ein Fußbild machen. Aber welchen Fuß nehmen wir dazu? Der ist gut und gesund. Aber der andere ist auch in Ordnung. Was tun? Dies ist unser Konflikt. Die Lösung heißt: Auszählen! Begründung: „Sonst ist der andere Fuß beleidigt, wenn er nicht drankommt“ (für uns und für die Kinder sind beleidigte Füße nicht selten…). Das Auszählen kommt dem Schicksal gleich und tut nicht weh, weil das Schicksal (und das Leben) keine Gerechtigkeit kennt.

Eine physiologisch-motorische Komponente kommt hinzu. Für entwicklungsverzögerte oder behinderte Kinder ist die Überkreuzung der Körpermitte oft problematisch. Diese kann angebahnt werden, wenn beim beide Hände des Kindes rhythmisch zu den auszuzählenden Dingen hin- und her geführt werden.

Des weiteren ist belegt, daß der Rhythmus, verbunden mit Sprechen eine wichtige Voraussetzung für den Spracherwerb und den Erwerb der Prosodie ist (M. Weuffen, pers. Mitteilung, Katz-Bernstein 1998). 

3. Das Reinkommen und Rausgehen

Ein Ritual mit einer sehr spielerischen Komponente ist das unterschiedliche Betreten des Therapieraumes. Die Kinder erfahren dabei, daß „reingehen“ nicht einfach Gehen bedeutet. Sie merken, es gibt die unterschiedlichsten Variationen des Themas „gehen“. So wird jeder Anfang einer Therapiestunde ein spannendes Ereignis. Größere Kinder warten nach ein paar Sitzungen auf diese Überraschung wie der 7-jährige Thomas, der zu seiner Mutter sagte: „Ich gehe da so lange hin, bis ihnen nichts mehr einfällt, wie sie mich reinholen können.“

Nicht nur vom Erleben her bietet dieses Ritual etwas. Ein Kind erweitert dadurch seine Begriffsbildung, seinen Wortschatz, macht durch die Bewegungsaspekte neue motorische Erfahrungen.
Natürlich wird die Art des Reinkommens auch auf den jeweiligen Zustand des Kindes abgestimmt. Ein Kind in Phase seines höchsten Widerstandes muß bei dieser Aktivität nicht kooperieren, man sucht ein Spiel aus, bei dem das Mitmachen nicht nötig ist. Es wird nie auf den Füßen der Therapeutin stehend in den Raum gehen. Also schaukelt man es eher an Händen und Beinen haltend in den Raum oder nimmt es huckepack mit hinein.

Die Anregungen / Spiele

Die für Theraplay verwendeten Spiele  haben ein besonderes Merkmal: Sie tauchen in keiner Spielesammlung auf, kaum ein Kind oder Erzieherin haben sie je vorgeschlagen. Das bedeutet: Sie sind dem Kind in der Regel unbekannt. Es kann und soll sie auch nicht kennen.

Das hat wichtige Gründe. Wir wollen dem Kind helfen, seine Einstellung zu sich zu verändern. Es soll sein Selbstkonzept und sein Selbstbewußtsein verbessern. Jeder, der das schon einmal verbal versucht und „mit Engelszungen“ auf das Kind eingeredet hat, weiß, daß es außerordentlich schwierig ist, ein Kind vom Gegenteil dessen zu überzeugen, was es denkt. „Ich bin ja doof“, „Ich kann das ja doch nicht“, „ich weiß, daß ich hässlich bin“ sind beispielsweise Äußerungen, die Überzeugungsversuche unterschiedlichster Art überleben.

Nehmen wir das Beispiel Geschicklichkeit. Eine Möglichkeit, eine Veränderung im Selbstbild wahrscheinlicher zu machen, findet sich in der Theraplay Vorgehensweise. Das Spiel, das Lars angeboten wird, kennt er nicht. Er hat also keine Erfahrung damit gemacht und kann sich dabei nicht einschätzen. Die Therapeutin sagt: „oh, das ist jetzt eine ziemlich schwierige Sache“. Ohne eigene Maßstäbe kann Lars der Einschätzung der Therapeutin kaum etwas entgegen setzen. Er wird ihre Beurteilung daher eher glauben.

Die für die jeweiligen Kinder sehr sorgfältig ausgesuchten Spiele stammen in der Regel aus den Bereichen Strukturierung, Stimulierung und Herausforderung. Natürlich können diese Spiele auch fürsorgliche Elemente und Aspekte beinhalten. So hatten wir für Armin, einem für sein Alter zu kleinen Jungen geplant, seinen Körper zu umfahren, um ihm ein Bild zu zeigen, wie groß er eigentlich ist. Wir breiteten das Stück Tapete also auf den Boden aus, legten ihn mit ausgestreckten Armen darauf und mußten bedauernd feststellen, daß Armin einfach zu groß ist für dieses Blatt. Ratlos stehen wir davor und sehen das Blatt und den Jungen an: „Er ist zu groß!“. Schließlich suchen und finden wir noch ein anderes, wo er dann – knapp – drauf paßt und ummalen ihn. Für Armin war das ein wichtiges Erlebnis – er war einmal zu groß!

Solche Äußerungen, die den Kindern ein anderes Gefühl für sich selbst geben sollen, müssen glaubwürdig sein. Hätten wir Armin nur gesagt, er sei ja schon groß, hätte er uns zum einen nicht geglaubt, zum anderen hätte er es schnell wieder vergessen. Nein, um Kinder zu überzeugen, müssen sie nachvollziehend glauben können, was wir sagen. Es muss sehen: das stimmt. Und: Wir Therapeutinnen müssen ebenso davon überzeugt sein. Sonst ändert kein Kind seine Meinung über sich und andere.

Bei vielen kleinen oder behinderten Kindern sind alle Spiele, die den Körper einbeziehen, von sehr großer Bedeutung. Bei Theraplay können Kinder sich, das heißt ihren Körper kennenlernen. Oft haben sie, wie beispielsweise der 2 ½jährige Felix mit seiner enormen Wahrnehmungsstörung, Sprachverständnisstörung und einem Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätssyndrom (ADHD) noch kein Bild von sich. Felix verstand nicht, wenn wir seinen Fuß ummalten, aber irgendwann einmal entdeckte er, in meinem Arm auf dem Schoß liegend, seinen Fuß und ergriff ihn – wie das ein Baby mit ca. 4-6 Monaten macht. Plötzlich war er aufmerksam auf ihn geworden. Er bewegte den umgriffenen Fuß und beobachtete ihn. Seine Entdeckung! Solch eine Entdeckung kann bei Theraplay auch gefördert und angebahnt werden durch angenehme Fuß- oder Handmassage. Das bedeutet, diese entwicklungsverzögerten oder –behinderten Kinder bekommen bei Theraplay Gelegenheit, ihre Gliedmaßen und ihren Körper kennenzulernen.

Noch ein Wort zu der Wichtigkeit der Bereiche. In Übereinstimmung mit Ph. Booth (pers. Mitteilung 1999) sehen wir den Bereich Struktur als den wichtigsten an. Die Struktur einer Interaktion, die durchsichtige, verstehbare Struktur einer Handlung vermittelt dem Kind Sicherheit. Und Sicherheit ist die Grundlage eines direkten sozialen Kontakts. Sie ist sowohl wichtig bei Kindern, die an Sprachverständnis-, Wahrnehmungs-, Aufmerksamkeitsstörungen leiden, als auch bei jenen, die verwirrt, entmutigt, aggressiv, hyperaktiv, passiv sind. Vorhersagbarkeit, Struktur verhilft zu einer positiven Beziehung (Kagan 1998).

Als den nächst wichtigen Bereich sehen wir die Fürsorge an. Fürsorgliches Verhalten wirkt auf einer emotionalen Ebene beruhigend und ist für die Eltern-Kind-Beziehung interkulturell prototypisch. Nicht nur vernachlässigte Kinder brauchen Fürsorge, auch die Jungen, die sich als kleine mächtige Machos gebärden, verhindern mit ihrem Verhalten die notwendige fürsorgliche Beeinflussung. Es ist, als ob sie sagen würden „das brauch ich nicht“, aber wenn man einmal durch ihren Schutzpanzer durchgedrungen ist, wird deutlich, wie nötig sie sie haben. Ihr Körpertonus sinkt, sie werden ruhig, ihre Verbalinjurien versiegen, das Kind wirkt einfach entspannt.

Der nächst wichtige ist ein besonders spielerischer Bereich, die Stimulation. Entwicklungsverzögerte, wahrnehmungsgestörte Kinder, entmutigte Kinder, behinderte Kinder können oft nicht zeigen, welche Reize sie in welcher Intensität brauchen. Die Theraplay-Therapeutin versucht herauszufinden, wieviel auditive, taktile oder propriozeptive Stimulation sie brauchen, um die angebotenen Reize empfangen, diskriminieren, verarbeiten und dann speichern zu können. Dies alles geschieht sehr spielerisch beispielsweise in Ratespielen wie Naschraten.

Am wenigsten wichtig für entwicklungsgestörte Kinder erscheint bei Theraplay der Bereich der Herausforderung. Er nimmt in unserer westlichen Gesellschaft oft überhand. Die meisten Eltern, Erzieher, Lehrer haben kein Problem damit, den Kindern Herausforderungen anzubieten. Beispielsweise nach dem Motto „ohne Abitur kommt man nicht ausreichend weit, man muß studieren, damit man eine gute Stelle bekommt und Karriere machen kann“ usw. Der Kampf um den Arbeitsplatz ist in den Köpfen vieler Kinder schon vorprogrammiert. Braucht ein Kind Herausforderung, weil es entmutigt ist und sich nichts traut? Das ist erst einmal ein Trugschluß. Denn als Voraussetzung für herausfordernde Aufgaben muß es sich erst einmal sicher fühlen. Dieses Gefühl bekommt es durch Struktur und Fürsorge. Natürlich verbunden mit der Einstellung einer oder mehrerer Erwachsener: „Ich glaube an Dich. Du bist OK wie du bist und schaffst, was du willst.“ Fühlt es sich selbst-sicherer, agiert es mutiger und nimmt  mehr Herausforderungen an und holt sich ein gutes Gefühl dabei, Herausforderungen geschafft zu haben. Es ist stolz auf sich! 

Ayres, J.: Bausteine der kindlichen Entwicklung. Heidelberg: Springer 1984
Franke, U.: Theraplay – Unterschiede zwischen Theraplay in den USA und in Deutschland, in: Theraplay Journal 7, 1993
Franke, U.: Versbüchlein. Oftersheim: U. Franke Verlag 1998
Hillenberg, L. u. Fries, B.: Starke Kinder – zu stark für Drogen. München: Kösel 1998
Jernberg A.M. u. Booth, P.: Theraplay. San Francisco: Jossey Bass 19992
Kagan, J.: How we become who we are, in: Family Therapy Networker Sept. 1998 S.52-63
Katz-Bernstein, N.: Die Bedeutung von Kommunikation und Sprache für die Sozialisationsprozesse im Vorschulalter, in: Zollinger (Hrsg): Kinder im Vorschulalter. Bern: Haupt 1998
Kaufmann-Huber, G. (1995) Kinder brauchen Rituale. Freiburg: Herder
Kellmer-Pringle: Was Kinder brauchen. Stuttgart: Klett Cotta 1979
Samuels, S.: Enhancing Self-Concept in Early Childhood. New York: Human Science Press 1977
Smith, H: Unglückliche Kinder. Düsseldorf: Patmos 1998
Thomas, R.M. u. Feldmann, B.: Die Entwicklung des Kindes. Weinheim: Beltz 1986

Ulrike Franke
Veröffentlicht in: Schwierige Kinder 18, 1999