Wie alles begann…

Chicago authentisch erzählt von Ted Hurst

Ende 1966 wurde ich von einem Freund beauftragt, einen Kostenvoranschlag für die Stadt Chicago für psychologische Dienste im Rahmen des ‚Head Start Project‘ zu erstellen. Das Budget betrug $ 70.000 und die Zahl der zu behandelnden Kinder 5000. Dieses Budget sollte sowohl für die Therapie als auch für das psychologische Testen reichen. Das war so nicht möglich. Denn das Budget würde gerade für das Testen von 100 Kindern ausreichen. Therapie wäre nicht mehr möglich. Daher rieten wir, die Firma Worthington, Hurst & Associates (WHA) zu dem Vorschlag, dass Lehrer und andere Fachleute aus dem Head Start Projekt diejenigen Kinder identifizieren sollten, die Hilfe brauchen. Die Behandlung sollte aber nicht im Head Start Bereich stattfinden, sondern im Lebensumfeld der Kinder.

Die Stadt Chicago lehnte unseren Vorschlag mit der Begründung ab, dass die Kinder dann nicht getestet würden und testen ist das, was Psychologen tun. Nach einigen Monaten suchte uns eines der verschiedenen Teams, bestehend aus drei Psychologen auf, die von der amerikanischen Psychologischen Gesellschaft (American Psychological Association APA) geschickt wurden. APA hatte einen Vertrag mit dem National Office of Head Start abgeschlossen, um psychologische Programme zu evaluieren. Bei ihren Reisen im Land kamen diese Teams zu der Schlussfolgerung, dass psychologisches Testen keinen Sinn hatte. Der Grund dafür war sowohl die Begrenzung des vorhandenen Budgets als auch der Mangel an geeigneten Tests. Die Psychologen fanden keine Tests für Vorschulkinder, die man als geeignet für die psychische Verfassung dieser kleinen Kinder ansehen konnte. Es gab offenbar keine Forschung zur Gültigkeit traditioneller klinischer Messinstrumente für kleine Kinder. Besonders wenige Untersuchungen wurden an armen Kindern und Kindern aus gesellschaftlichen Minoritäten gemacht.

Als Ergebnis der Diskussionen mit dem APA Team wurde unser Vorschlag gegen heftigen Widerstand der Stadt schließlich dann doch akzeptiert. Im Februar 1967 begann unser Programm, aber niemand in unserem Firmen-Team war erfahren im Umgang mit Vorschulkindern. Seit vielen Jahren arbeiteten wir vorwiegend im Bereich Personalbeurteilung. Ich suchte nach einem Direktor für unser Programm. Einige Kollegen hatten Ann Jernberg empfohlen, denn ich selbst hatte Ann nur kurz kennen gelernt, als wir in der Schule, im Committee on Human Development of the University of Chicago zusammen waren. Erst lehnte sie ab mit der Begründung, dass sie zwei kleine Töchter habe, die sie zu Hause brauchten. Aber dann akzeptierte sie schließlich mein Angebot, denn ich gab ihr die Möglichkeit, frei über ihre Zeit und ihr Engagement zu verfügen. Sie fand, dass diese Arbeit einer Kinderpsychologin so besondere Möglichkeiten gab, dass sie nicht nein sagen konnte. Auch ihr Mann Pete nahm eine wichtige Rolle bei ihrer Entscheidung ein. Er war der Meinung, dass diese Art Arbeit zu wichtig war, als dass sie sie ausschlagen konnte und versprach ihr, dass er sich wesentlich mehr um die Kinder kümmern wollte, als bisher. Wie die beiden Töchter heute noch erinnern, war dies kein leeres Versprechen.

Wissen Sie noch? Unser Vorschlag bestand aus zwei großen Teilen: Zum einen sollten die Head Start Leute diejenigen Kinder identifizieren, die Hilfe brauchten. Zum anderen sollten die Kinder dann in den öffentlichen und privaten Institutionen behandelt werden. Wir hatten, naiv wie wir waren, übersehen, dass solche Institutionen kaum existierten. Psychologische Hilfe für Vorschulkinder war selten, lediglich in ein paar Forschungsprogrammen, die dann ein bis zwei Kinder behandeln wollten – besonders Jungen, die ihren Forschungskriterien entsprachen. Ganz nebenbei: Wir sind heute weniger naiv. Wir wissen jetzt, dass es immer noch viel zu wenig Institutionen gibt, die psychologische Behandlung von Vorschulkindern anbieten.

Nach nur wenigen Monaten hatten wir eine Liste von nahezu 200 hilfebedürftigen Kindern, aber keine Therapieplätze. Wir spürten alle das dringende Bedürfnis, etwas zu unternehmen und eine noch stärkere Frustration über unsere Unfähigkeit, irgendetwas Konstruktives auf die Beine zu stellen.

Ann Jernberg war vorher als Psychologin im Michael Reese Hospital tätig und hatte noch immer engen Kontakt mit vielen Mitgliedern des Teams. Eine Kollegin, Dr. Viola Brody erwähnte Ann gegenüber, dass eine ambulante Klinik – ich habe den Namen vergessen – eine junge Frau angestellt hatte für Büroarbeiten, die so effektiv in ihrer Arbeit mit Kindern war, dass man ihr erlaubte – ja sie sogar ermutigte – mit Kindern therapeutisch zu arbeiten. Diese junge Frau, Ernestine Thomas hatte keine Ausbildung. Sie ging jedoch mit den auffälligen Kindern intuitiv und mit viel Witz um.

Ich weiß nicht mehr, ob der leitende Psychologe Dr. Austin Des Lauriers noch in der Abteilung war, aber durch seine Kreativität beeinflusste er stark die Art des informellen und experimentellen Prozesses. Er war bekannt für seine Offenheit und unbekümmert ignorierte er die üblichen professionellen Grenzen. Ann hatte einige Jahre bei ihm gearbeitet. Er war für sie ein wichtiger Mentor.

Auf Dr. Brodys Empfehlung hin interviewte Ann Ernestine Thomas und stellte sie als erste Head Start Therapeutin ein. Rasch bemerkte Ann das Talent dieser jungen Frau und wurde ihre Führerin, Lehrerin, Mentorin und bald auch Freundin. Nun stellte Ann auch andere Nicht-Professionelle ein, einschließlich Eltern von Head-Start-Kindern. Am Anfang waren es nur Mütter, aber nach kurzer Zeit kamen auch Väter dazu. Bald wurde deutlich, dass diese Laientherapeuten bemerkenswerte positive Ergebnisse bei der Behandlung der auffälligen Kinder erzielten. Der Ruf verbreitete sich. Auch Lehrer und Sozialarbeiterinnen begannen, um Hilfe für auffällige Kinder zu bitten. In dieser Zeit verbrachte Ann viel Zeit draußen in den Praxen, sie half, führte und unterstützte die Therapeuten. Daneben entwickelte sie ein theoretisches Gerüst, um die guten Behandlungsergebnisse zu erklären und auszuweiten.

Anns Arbeit als Psychologin wurde sehr von ihrer Arbeit und ihrer psychoanalytisch orientierten Ausbildung beeinflußt. Sie realisierte, dass die Psychoanalyse mit ihrem Schwerpunkt auf der Vergangenheit, in der mit Patienten fast ausschließlich verbalisiert wurde, und Körperkontakt verboten war, einfach nicht zu den Problemen der Head Start Kinder passte. Doch sie wertschätzte die Psychoanalyse ihr Leben lang, fand sie hilfreich und setzte sie vor allem in der Arbeit mit Erwachsenen und älteren Kindern ein. Aber die Menschen, die eng mit Ann verbunden waren und mit ihr gearbeitet haben, sprechen immer davon, dass ihr therapeutischer Ansatz mehr eklektisch als einseitig und vor allem immer sehr persönlich war. Sah sie sich einem neuen oder ungewöhnlichen Problem gegenüber, ließ sie sich in ihrem Urteil nicht von theoretischen Prinzipien leiten. Anns theoretischer psychoanalytischer Hintergrund war keineswegs statisch. Früh interessierte sie sich für Hedda Bolgars Psychologie des Selbst. Sie schloss auch die Arbeiten von Anna Freud, John Bowlby, Wilfried Bion und viele andere mit ein. Letztlich war sie jedoch mehr interessiert an dem „wie“ als an dem „warum“. Sie besuchte, manchmal mit mir und manchmal ohne mich, unterschiedliche Workshops – von NLP (Neurolinguistisches Programmieren) bis Habib Davanloo.

Bei Ernestine Thomas‘ therapeutischer Tätigkeit blieb es nicht, Ernestine begann Kurse zu geben und bildete Therapeuten aus. Sie wurde Anns rechte Hand. Ernestines Therapieerfahrungen wurden so wichtig für sie, dass sie beschloss, Therapie zu ihrem Lebenswerk zu machen. Ohne unsere Hilfe in Anspruch zu nehmen kam sie im Northeastern Illinois College an, wo einige Therapeuten begonnen hatten, sich für unsere Arbeit zu interessieren. Schließlich bekam Ernestine vom Eriksen Institute auch noch ein M.A. im Bereich Child Development.

Unsere Erfolge mit der Therapie waren eindrucksvoll, aber doch schwer für diejenigen zu verstehen, die aus den mehr traditionellen Richtungen kamen. 1968 entschlossen wir uns, Filme über unsere Arbeit zu drehen. Den Auftrag bekam ein junger Filmemacher vom Illinois Institute of Technology (IIT), Charles Lyman. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir für unsere Therapie noch keinen passenden Namen gefunden. Immer wieder wurde uns eine Art ‚Play Therapy‘ vorgeschlagen, aber das mussten wir ablehnen. Die traditionelle Spieltherapie hatte so viel mit Spielsachen zu tun und das führte leicht zu Verwechslungen mit der traditionellen Spieltherapie – vor allem von den Fachleuten mit einer psychodynamischen Ausbildung. Eines Tages schlug dieser Kameramann Charles Lyman beim Mittagessen den Namen Theraplay vor. Sofort waren wir alle davon angetan. Therapie (therapy). Spiel (play) ist Theraplay. Der erste Theraplay Film “Here I am” gewann den ersten Preis bei einem nationalen Filmfestival in Columbus, Ohio, den ‚Chris‘.

Wir wussten zwar aus Erfahrung, dass der Erfolg von Theraplay lang anhielt, konnten das aber nicht nachweisen. Daher filmten wir die beiden Kinder aus dem Film „Here I am“ drei Jahre später als „dokumentierte Katamnese“. Diese gefilmte Katamnese war ein absoluter Durchbruch und ist heute noch in der Therapiewelt einzigartig. Kein vernünftiger Mensch kann die Effektivität von Theraplay leugnen, die durch die Filme deutlich wird.

In der Zeit, als Ernestine am Eriksen Institute an ihrem M.A. arbeitete, wurde der berühmte Pädiater Barry Brazelton als Redner eingeladen. Er war fasziniert von Ernestines Beschreibung von Theraplay und unglücklicherweise auch von Ernestine. Auch nach dem Treffen führten sie weiterhin Gespräche und Diskussionen. Mitarbeiter des Eriksen Institutes teilten dann Ernestine mit, dass sie kein Recht habe, Theraplay, eine wissenschaftlich nicht überprüfte Therapieform und Theorie zu verbreiten und Anhänger dafür zu finden.

Autor: Ted Hurst, Chicago